D. Schauz: Strafen als moralische Besserung

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Titel
Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933


Autor(en)
Schauz, Désirée
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Erst seit einigen Jahren beschäftigt sich die historische Kriminalitätsforschung intensiver mit der Epoche nach 1800. Inzwischen zeichnen sich auch erste Schwerpunktbildungen ab. Im Vergleich zur Frühneuzeitforschung, welche die pragmatische Seite herrschaftlicher Konfiktregulierung stark betont, fällt dabei das grosse Gewicht auf, das Historikerinnen und Historiker dem juristisch-staatlichen Dispositiv, kriminalpolitischen Entwürfen und der wissenschaftlichen Expertise innerhalb der Strafjustiz einräumen. In diesem Forschungskontext bewegt sich auch die Kölner Dissertation von Désirée Schauz, die sich mit einem bisher kaum beachteten Aspekt des Umgangs mit Kriminalität in der Moderne beschäftigt: der Fürsorge für Straffällige. In drei Kapiteln spannt die Untersuchung den Bogen von den Anfängen der Anstalts- und Gefängnisreform im frühen 19. Jahrhundert über die Auseinandersetzung zwischen Juristen und Medizinern über eine neue Strafrationalität im späten 19. Jahrhundert bis zur punktuellen Implementierung dieser Reformen in der Weimarer Republik. Als roter Faden dient die Entwicklung der 1826 in Düsseldorf gegründeten Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft (RWG).

Die Straffälligenfürsorge entstand im Fahrwasser der Gefängnisreformbewegung, die den Besserungsgedanken gegenüber Vergeltung und Abschreckung in den Vordergrund stellte und mit der Einzelhaft ein neues Strafmodell entwarf. Organisatorisches Rückgrat dieser Bewegung bildeten regionale, privat oder kirchlich getragene Gefängnisvereine, die den Anspruch erhoben, den Strafvollzug mitzugestalten, und sich auch in der Fürsorge engagierten. Als handlungsleitend erwies sich ein religiös geprägtes, sozialmoralisches Kriminalitätsverständnis, das Straffälligkeit als Folge einer «unsittlichen und gottlosen» Lebensführung ansah. Konsequenterweise sollten Frauen und Männer, die auf die «schiefe Bahn» geraten waren, zu sittlich einwandfreiem Verhalten erzogen und geläutert werden. Wie die Autorin zeigt, konstituierte dieses Moralisierungsprojekt zugleich jene Tätigkeitsfelder, die für die Sträflingsfürsorge bis ins 20. Jahrhundert zentral bleiben sollten: die «pastorale Erfassung des Gefängniswesens» (S. 117) durch die Gefängnisseelsorge mittels Einzelgesprächen und Gottesdiensten, die Organisation einer Familien- und Entlassenenfürsorge, zu deren Aufgabe das Vermitteln von Arbeit und Unterkunft gehörten, und schliesslich die stationäre Fürsorge in Asylen und Arbeiterheimen. Die Bemühungen der Philanthropen und Geistlichen stiessen indes rasch auf Schwierigkeiten. So blieb das Besserungsziel nicht zuletzt wegen des geringen Erfolgs umstritten, den Gefängnisseelsorgern machte zudem ihre isolierte Stellung in Strafvollzug und Kirche zu schaffen. Auch blieben Kompetenzstreitigkeiten mit den Behörden nicht aus, wie der gescheiterte Versuch Johann Hinrich Wicherns, in der Strafanstalt Moabit Diakone in den Aufseherdienst zu berufen, exemplarisch zeigt. Vermutlich trug aber auch die Verbreitung kurzer Freiheitsstrafen dazu bei, dass das Besserungsprojekt um 1860 in eine Krise geriet, die von der Autorin überzeugend als ein Auseinanderklaffen von Erwartung und Erfahrung interpretiert wird (S. 379).

Diese Legitimationskrise bildete den Ausgangspunkt für eine nachhaltige Kritik am Strafsystem, die, so die Autorin, vor allem von der Strafrechtswissenschaft und der Psychiatrie getragen wurde – ergänzend wäre wohl auf die internationalen Gefängniskongresse zu verweisen, bei denen Exponenten des Strafvollzugs eine wichtige Rolle spielten. Im Zentrum der Problematisierung stand die nun statistisch identifizierbare Gruppe der «Unverbesserlichen», an denen alle Besserungsversuche wirkungslos abzuprallen schienen. Zu Recht relativiert Schauz allerdings die gern beschworene Zäsur, wonach ab 1880 biologistisch-deterministische Deutungsmuster ältere Interpretationen kriminellen Verhaltens verdrängt und den Boden für eine täterzentrierte Reform des Strafrechts bereitet hätten (S. 200, 310). So belegen die Schriften Hugo Stursbergs, eines Anstaltsgeistlichen aus dem Umfeld der RWG, dass sich moralisierende Kriminalitätsdeutungen mit antimodernistischem Einschlag durchaus halten konnten. In der Tat war die psychiatrisch-kriminologische Spielart des Reformdiskurses keineswegs unproblematisch. Denn just in dem Moment, als sich die Straffälligenfürsorge unter staatlichem Druck stärker zu professionalisieren und zu vernetzen begann, drohte der Glaube an die Erziehbarkeit des Individuums untergraben zu werden. Ihre Exponenten reagierten auf diese Situation allerdings recht flexibel; so adaptierten sie psychiatrische Erklärungsmuster durchaus als Entlastungsargument für das Scheitern der eigenen Besserungsstrategien (S. 315).

In der Weimarer Republik gelangten die Bemühungen um eine Strafrechtsreform nicht über punktuelle Reformen hinaus. Vor allem der Stufenstrafvollzug akzentuierte die Bedeutung des Erziehungsgedankens, zugleich verschärfte er aber auch den Ausgrenzungsdruck auf einzelne Häftlingsgruppen. Die Gefängnispfarrer, deren Aufgabe nach 1918 vielerorts in Frage gestellt wurde, zeigten sich zwar skeptisch gegenüber solchen Vollzugsreformen, unterstützten jedoch Forderungen nach Beschränkung der Resozialisierungsbemühungen auf erziehbare Gefangene und nach der Verwahrung «Unverbesserlicher». Gleichzeitig gelang es der Sträflingsfürsorge, Tätigkeitsfelder zu besetzen, die durch einzelne Reformmassnahmen neu entstanden. So erhielt die Schutzaufsicht mit der Verankerung des bedingten Straferlasses in der Rechtssprechung neuen Auftrieb, ebenso die Gerichtshilfe, die auf einer neuartigen Zusammenarbeit zwischen Justiz und privaten Akteuren beruhte.

Ein wichtiges Verdienst der Untersuchung ist das Herausarbeiten der Kontinuität des Besserungsgedankens und der damit einhergehenden pragmatischen Interpretationen von Delinquenz. Überzeugend zeigt Désirée Schauz, dass das in der Forschung beliebt gewordene Postulieren von Brüchen und Gegensätzen der historischen Realität nur bedingt gerecht wird. Je nach Standpunkt und Quellenauswahl muss das Strafsystem als «Grossprojekt der Moderne» (S. 59) in einem differenzierten Licht erscheinen. Nicht abschliessend beantwortet die Untersuchung allerdings die Frage, inwiefern das Konzept der Besserung selbst einem Wandel unterliegt, also inwiefern sich die gesetzten Ziele einer moralischen, «bürgerlichen» und schliesslich «sozialen» Besserung im historischen Zeitverlauf ablösen oder überlagern. Kritisch angemerkt werden kann zudem, dass die Organisationsgeschichte der RWG, aber auch die alltäglichen Begegnungen von Gefängnisseelsorgern, Fürsorgern und ihren «Klienten» stellenweise etwas konturlos bleiben. Diese wenigen Einwände tun aber der Leistung der Autorin, mit ihrer differenzierten und sorgfältigen Darstellung eine Lücke der Forschung zu schliessen und der Forschungsdiskussion neue Anregungen zu geben, keinen Abbruch.

Zitierweise:
Urs Germann: Rezension zu: Désirée Schauz: Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933. München, R. Oldenbourg Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 382-383.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 382-383.

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